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Chinesische Medizin als Ergänzung zur Bioenergetischen Psychotherapie

"Wenn es gelingt, den Patienten dazu zu bringen, Gedanken voller Zweifel und Voreingenommenheit zu vermeiden, wenn absurde Ideen, Groll sowie Gewissensbisse, die einen selbst und andere betreffen, beseitigt werden, gibt es eine plötzliche Befreiung, in deren Folge das Herz spontan geklärt wird und die Krankheit sich selbst heilt.
Wenn einem dies gelingt, endet die Krankheit, bevor Arzneimittel eingenommen werden."

aus Xu Xun, 1611: Der kostbare Spiegel der Medizin

 
Philosophische Grundlagen der chinesischen Medizin

Die chinesische Medizin ist ein traditionelles Heilkundesystem, deren erste schriftliche Aufzeichnungen ca. 2500 Jahre alt sind. Das von ihr vertretene Menschenbild ist maßgeblich beeinflusst von den damals in China vorherrschenden philosophischen Schulen, insbesondere dem Konfuzianismus und dem Daoismus. Während ersterer den Menschen vor allem als Teil eines gesellschaftlichen Ordnungssystems beschrieb, betonte letzterer den spontanen und natürlichen Verlauf aller Lebensprozesse, dessen Urgrund grundsätzlich unerforschlich ist.

Aus diesem Urgrund entspringt das Dao, dessen chinesisches Schriftzeichen den Kopf einer Führerpersönlichkeit symbolisiert, die drei zeremonielle Schritte tut . Dieses Dao ist die unergründliche, letztlich nicht beschreibbare Quelle aller Wirkungszusammenhänge, der ruhende Pol, um den herum sich die Welt von selbst entfaltet und gleichzeitig der Lauf aller Dinge, der wie von selbst von dort seinen Ausgang nimmt. Es wird gewöhnlich als "Weg der Natur" übersetzt. In dieser Tradition ist ein weiser Mensch dann derjenige, der die eigenen Schritte (seine eigenes Dao) mit dem ewigen, universellen Dao in Einklang bringt und anstrengungslos dessen Lauf folgt.

Eine an daoistischen Grundsätzen ausgerichtete Medizin wird sich dementsprechend am natürlichen Verlauf aller Lebensprozesse orientieren und diese durch Praktiken und Übungen der Gesundheitspflege (yang sheng - "Nähren des Lebens") unterstützen. In Anerkennung der Tatsache, dass der Weg der Natur letztlich unergründlich ist, versucht sie, Krankheitsprozesse vor allem durch "Nicht-Tun" (wu wei) zu beeinflussen, d. h. ohne unnötiges Eingreifen bzw. mit minimalen Interventionen, durch die sich das salutogenetische Potential eines Menschen aus sich selbst heraus (zi ran) entfalten kann.

Laozi, der sagenhafte Begründer der daoistischen Lehre, wird im Klassiker vom Wegund der Wirkkraft (dao de jing), Kap. 42, folgendermaßen zitiert:

"Das Dao bringt die Einheit hervor
Die Einheit bringt die Zweiheit hervor
Die Zweiheit bringt die Dreiheit hervor
Die Dreiheit bringt die zehntausend Dinge hervor
Die zehntausend Dinge
Getragen vom Yin, umfangen vom Yang,
Geeint werden sie durch das dynamische Qi."

Die "Einheit", von der hier die Rede ist, wird repräsentiert durch den "Urstoff" bzw. die "Urkraft" Qi, dessen Schriftzeichen den Dampf symbolisiert, der aus kochendem Reis aufsteigt. Das Qi ist in der chinesischen Philosophie das "Agens, das die sichtbare Welt bewirkt", eine alles vereinigende, unbestimmte Kraft, die aber auch gleichzeitig stoffliche Aspekte hat. Es entspricht dynamischen, feinstofflichen Einflüssen, die sich als "Atem der Natur" (z.B. in Form von Wetterphänomenen) frei bewegen aber auch (z.B. in Lebensmitteln) gebunden sein können. In der belebten Natur manifestiert es sich als die Kraft, die das Leben überhaupt erst hervorbringt.

Die "Zweiheit", von der Laozi spricht, sind die polaren Kräfte Yin und Yang, deren Schriftzeichen die von Wolken beschattete und die von Sonnenstrahlen beschienene Seite eines Berges symbolisieren. Ihr Zusammenspiel repräsentiert die harmonische Ordnung aller Dinge und Prozesse in der Natur. Dabei entspricht dem Yin das Kühle, Dunkle, Ruhige, Substantielle und die Erde, dem Yang hingegen das Warme, Helle, Aktive, Feinstofflich-"Geistige" und der Himmel. Yin und Yang sind untrennbar miteinander verbunden, sie wandeln sich ineinander um und halten einander ("homöostatisch") im Gleichgewicht.

Die natürlichen Lebensvorgänge im Menschen aus chinesischer Sicht
Der Mensch befindet sich in diesem Modell zwischen dem Yang-Himmel und der Yin-Erde. Wie in der Natur sollte auch in seinem Organismus ein harmonisches Gleichgewicht bestehen zwischen dessen Yin-Aspekten (strukturbildene Gewebe, Körperflüssigkeiten) und Yang-Aspekten (Funktionen und Aktivitäten). Jede noch so komplexe Krankheit lässt sich letztlich auf ein Ungleichgewicht zwischen diesen Yin- und Yang-Aspekten zurückführen und jede therapeutische Maßnahme zielt im Endeffekt auf dessen Beseitigung und die Wiederherstellung der Yin-Yang-Harmonie. Die Analyse eines Ungleichgewichts zwischen Yin und Yang ist meist der erste Schritt eines diagnostischen Prozesses, auf den dann je nach Art der Erkrankung weitere differenziertere Schritte folgen. Der aus der Interaktion von Yin und Yang entstehenden "Dreiheit" Himmel - Mensch - Erde entsprechen auf der Ebene des Mikrokosmos Mensch die "Drei Schätze" Geist, Qi und Essenz.

  • Der Geist (shen) ist im umfassendsten Sinn die transzendente Weisheit und im Menschen die Gesamtheit seiner "geistigen" Lebensäußerungen, durch die er seine Beziehungen zur Umwelt selbst beeinflusst.

  • Das Qi als universelles Naturphänomen entspricht im Menschen seiner Lebenskraft, die sich (z.B. als Atem) frei bewegen, sich aber auch in immer neuen veränderlichen Strukturen manifestieren kann. Dabei vereinigt es alle körperlichen Substanzen und Aktivitäten, vor allem auch den Geist und die Essenz.

  • Die Essenz (jing) ist die im Organismus gespeicherte materielle Grundlage von Wachstum, Entwicklung und Fortpflanzung.



Das Qi als die Kraft/Substanz, die alle organismischen Funktionen und Strukturen vereinigt, fließt im Organismus vor allem in zwölf paarigen und zwei unpaarigen Leitbahnen, auch "Meridiane" genannt. Sie vernetzen die gesamte Körperoberfläche und versorgen im Inneren je eines der so genannten "Speicher-" bzw. "Durchgangsorgane" (zang fu). Mit Hilfe dieser inneren Instanzen beschreibt die chinesische Medizin die gesamte psycho-physische Regulation des Organismus und deren mögliche Störungen.

Eine besondere Bedeutung haben dabei die "Fünf Speicherorgane" (zang<), in denen der Geist (shen) in Form von fünf unterschiedlichen Manifestationen wirksam wird, gemeinsam mit dem Qi, d.h. den dynamisch-funktionellen Aspekten des Organismus und dessen biologisch-substantiellen Grundlagen, deren Quelle die Essenz (jing) ist.

Die Zuordnung dieser fünf Funktionszusammenhänge oder "Regungsherde" zu fünf inneren "Organen" ist dabei eher symbolischer Natur und kann verglichen werden mit der Verwendung von Organnamen in Redensarten der Alltagssprache (etwas "geht mir an die Nieren" "liegt mir auf dem Herzen" etc.).

Im Einzelnen werden den Fünf Zang von der chinesischen Medizin folgende Funktionen zugeschrieben:
  • Das Herz (xin) regiert die Blutgefäße und beherbergt den Geist.

  • Die Leber (gan): speichert das Blut, regiert die Sehnen und garantiert den freien Fluss des Qi.

  • Die Lunge (fei) regiert die Körperoberfläche, das Qi und die Atmung.

  • Die Milz (pi) regiert die Beförderung und Umwandlung der Nahrung.

  • Die Nieren (shen) speichern die Essenz und damit die Reserven des Organismus für außerordentliche Belastungen. Des Weiteren regieren sie das Wasser und erzeugen das Mark sowie die Knochen.
Außerdem beherbergen die Fünf Zang jeweils einen von fünf verschiedenen Aspekten des Geistes.
  • Das Herz beherbergt den (Herz-)Geist (xin shen), der für Kommunikation und klares Denken zuständig ist.

  • Die Leber beherbergt die Ätherische Seele (hun), die für Träume und Phantasien sowie Mut und Entschlusskraft zuständig ist.

  • Die Lunge beherbergt die Körperseele (po), die für die Vitalität und triebhafte Reaktionen zuständig ist.

  • Die Milz beherbergt die Vorstellungskraft (yi), die für Konzentration, Denken und Behalten zuständig ist.

  • Die Nieren beherbergen die Willenskraft (zhi), die für Antriebskraft und Entschlossenheit zuständig ist.

Die Emotionen in der chinesischen Medizin
Im Inneren Klassiker des Gelben Kaisers<(i>, dem ältesten erhaltenen Grundlagenwerk der chinesischen Medizin werden die "Fünf Willenskräfte" (wu zhi) beschrieben, die jeweils einem Zang zugeordnet sind, und zwar die freudige Erregung (xi) dem Herzen, das (Nach-) Denken (si) der Milz, die Trauer (bei) der Lunge, die Furcht (kong) den Nieren und der Zorn (nu) der Leber. Bei diesen "Fünf Willenskräften" handelt es sich um die Potentiale bzw. Fähigkeiten, die jeweiligen Gefühle zu entwickeln oder auch um lebendige Spannungszustände, in denen die Gefühle als subtile körperliche Reaktionen wahrgenommen, aber (noch) nicht ausgedrückt, d.h. gehalten werden. Bedeutsam ist auf jeden Fall die Tatsache, dass diese Gefühlspotentiale als wesentliche Aspekte des menschlichen Geisteslebens zum physiologischen Funktionsspektrum der Zang gehören. Sie helfen dem Menschen als "führende und leitende Kräfte" bei der Bewältigung von "Zeiten der Erregung und des Wandels". Dabei werden sie zwar in den verschiedenen Zang generiert, aber alle im Herzen, wo nach der chinesischen Theorie alle geistigen Prozesse ihr Zentrum haben, wahrgenommen und verarbeitet.

Allerdings können die Emotionen, wie eine Vielzahl anderer natürlicher Phänomene auch, bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle spielen. Das geschieht dann, wenn sie in einer Art und Weise wirksam werden, die die Regulationsfähigkeit des Organismus überfordert und ihn aus seinem harmonischen Gleichgewicht bringt. Wie in anderen Bereichen des chinesischen Denkens so finden wir auch in dieser Theorie die Vorstellung wieder, dass der Mensch versuchen sollte, Extreme zu meiden und so gut wie möglich auf dem "Mittleren Weg" zu bleiben.

Die psycho-somatische Krankheitslehre der chinesischen Medizin
Bei der Darstellung der Gesetzmäßigkeiten, die der Entstehung von Krankheiten zugrunde liegen, spielt in der chinesischen Medizin die innige Verbindung von leiblichen und seelischen Lebensäußerungen in den einzelnen Zang eine große Rolle. Auf dieser Grundlage lässt sich beschreiben, wie einerseits "psycho-soziale" Störungen körperliche Fehlfunktionen zur Folge haben können, andererseits aber auch Schädigungen des Organismus durch klimatische Einflüsse, falsche Ernährung, Erschöpfung und andere Beeinträchtigungen der körperlichen Homöostase zu psycho-emotionalen Störungen führen können. Dabei unterscheidet die chinesische Medizin grundsätzlich drei Arten der Krankheitsverursachung:
  • Äußere Krankheitsursachen
    Hierbei handelt es sich um die verschiedenen klimatischen Einflüsse, wenn sie im Übermaß, zur Unzeit oder bei geschwächter Abwehr auftreten.

  • Innere Krankheitsursachen
    Als solche werden ausschließlich dysfunktionale Emotionen beschrieben, die die Fünf Zang schädigen.

  • Weder Innere noch Äußere Krankheitsursachen
    Dabei handelt es sich um eine heterogene Gruppe ätiologischer Faktoren, wie z.B. Ernährungsfehler, körperliche Überlastung, physikalische Schädigungen und auch die weder durch klimatische Einflüsse noch durch schädigende Emotionen im Inneren entstehenden Krankheitsprozesse.

Auffällig ist hier die große Bedeutung, die den Emotionen bei der Entstehung von Krankheiten zugeschrieben wird. In ihrer krankheitsverursachenden Form werden sie in der chinesischen Medizin als die "Sieben Leidenschaften" (qi qing) bezeichnet, von denen sechs bereits im Inneren Klassiker des Gelben Kaisers wie folgt beschrieben werden.

"Zorn entspricht aufsteigendem Qi
Euphorie entspricht sich mäßigendem Qi
Trauer entspricht sich verlierendem Qi
Furcht entspricht nach unten sinkendem Qi (...)
Schreck (
jing) entspricht chaotischem Qi (...)
(Nach-)Denken entspricht sich verknotendem Qi"

Später wurde dann dieser Liste noch der Kummer (you) hinzugefügt, der ebenfalls Stauungen und Verknotungen des Qi entspricht.
Wir finden in dieser Aufzählung auch die Emotionen wieder, deren Potential in Form der "Fünf Willenskräfte angelegt ist, hier aber in einer extremen Form, die den Organismus aus seinem Gleichgewicht bringen und krank machen kann. Ihr möglicher schädigender Einfluss auf die Gesundheit entsteht dann aufgrund einer Übersteigerung des für sie typischen Bewegungsmusters des Qi.

Darüber, wie die Leidenschaften mit den Bewegungen des Qi zusammenhängen, gibt es in der chinesischen Medizin verschiedene Ansichten. Die eine Interpretation der klassischen Texte geht von einer Kausalbeziehung aus. In diesem Fall würde eine Emotion eine dysfunktionale Qi-Bewegung verursachen. Eine andere Ansicht geht von einer gegenseitigen (zeitlichen) Abhängigkeit bzw. Synchronizität von Emotion und Qi-Bewegung aus. In diesem Fall wären beide mehr oder weniger identisch. Auf jeden Fall postuliert die CM, dass die Sieben Leidenschaften mit Hilfe jeweils spezifischer Zang ausgedrückt, aber alle im Herzen empfunden werden.

Die hier geschilderten Zusammenhänge lassen sich sehr gut mit den Konzepten der Bioenergetischen Analyse vereinbaren, die ja auch davon ausgeht, dass der freie Fluss der Lebenskraft durch den Organismus und der Fluss emotionaler Erregung auf das Engste miteinander interagieren. Die Unterscheidung zwischen dem für die jeweilige Emotion spezifischen Bewegungsmuster des Qi und dessen Wahrnehmung durch den Geist im Herzen findet sich in ähnlicher Form auch bei Antonio Damasio.

"Abgesehen von der Emotion, welche durch die Gesamtheit (körperlicher) Reaktionen beschrieben wird, müssen noch zwei weitere Schritte stattfinden, bevor die Emotion erkannt wird. Der erste Schritt ist das Fühlen, die Vorstellung von den (körperlichen) Veränderungen. Der zweite ist die Anwendung des Kernbewusstseins auf den ganzen Komplex der Phänomene. Das Erkennen einer Emotion - das Fühlen eines Gefühls - findet erst an diesem Punkt statt." (Damasio, A. 2002, S.88)

Ein für das Verständnis psycho-somatischer Zusammenhänge sehr wesentliches Konzept der chinesischen Medizin postuliert, dass dysfunktionale Emotionen (d.h. die "Sieben Leidenschaften") ihren schädigenden Einfluss in der genau in dem Zang manifestieren, das sie auch erzeugt.
  • Übermäßiges Nachdenken oder Besorgnis können die Vorstellungskraft (yi) und die dafür zuständige Milz überlasten.

  • Große bzw. anhaltende Trauer drückt sich in Weinen und Schluchzen aus, die im Übermaß die Lunge überlasten.

  • Furcht oder Schreck mobilisieren im Übermaß so stark die Energiereserven des Organismus, dass die Nieren, in denen diese gespeichert werden, geschädigt werden.

  • Übermäßiger oder anhaltender Zorn führt, wenn er ausgedrückt wird, zu übermäßigem Aufsteigen des Qi. Wenn er dagegen unterdrückt wird, wird auch der Fluss des Qi blockiert. Beides überlastet die Leber, die für den harmonischen Qi-Fluss verantwortlich ist.

  • Übermäßige Euphorie, d.h. ein (hypo)manischer Zustand, stört die Fähigkeit des (Herz-) Geistes zu folgerichtigem Denken und schädigt so auch das Herz selbst.

Die Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen mit Methoden der chinesischen Medizin
Wenn nun chinesische Heilkundige auf der Grundlage der oben erläuterten Konzepte eine Diagnose stellen, haben sie mehrere Möglichkeiten, darauf aufbauend ein Behandlungskonzept zu entwerfen. So können sie den Organismus durch Verabreichung von pflanzlichen, tierischen oder mineralischen Arzneien und/oder durch eine Umstellung der Ernährung von innen heraus zu beeinflussen. Sie können auch den Fluss des Qi über Reizpunkte beeinflussen, die dort liegen, wo es nahe der Oberfläche entlang bestimmter Leitbahnen fließt. Dabei kommen die Nadeln der Akupunktur, die Wärmeanwendungen der Moxibustion oder die manuellen Techniken verschiedener Akupressurmethoden zum Einsatz. Schließlich können die Patientinnen und Patienten aber auch angeleitet werden, die gesundheitsfördernden Übungen des Taijiquan oder der Qigong zu praktizieren.

Dabei haben bestimmte Formen des Qigong durchaus Ähnlichkeit mit bioenergetischen Übungen und führen zum Teil auch zu spontanen Bewegungen und evtl. auch zu emotionalen Ausdrucksphänomenen. Auch der Fingerdruck der Akupressur kann einen starken lösenden Einfluss auf den Muskelpanzer in dem von Wilhelm Reich beschriebenen Sinne ausüben. Beide Methoden lassen sich, wenn sie gut beherrscht werden, durchaus in die bioenergetische Therapie integrieren und können Therapeuten einen zusätzlichen, sehr differenzierten Zugang zur Körperarbeit bieten.

Die anderen Behandlungsmethoden der chinesischen Medizin können psychische Prozesse zwar ebenfalls tief greifend beeinflussen, allerdings verlangt ihr Einsatz eine andere Art von therapeutischer Beziehung als analytische Psychotherapien. Während erstere das Expertenwissen der behandelnden Person nutzen und auf die Compliance, d.h. die Therapietreue der behandelten Person angewiesen sind, spielen bei letzteren das emotionale Bezogensein der beteiligten Personen und die damit verbunden Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene eine große Rolle. In diesem Rahmen können dann z.B. auch Widerstände gegen therapeutische Interventionen produktiv genutzt werden, die bei "medizinischen" Interventionen eher kontraproduktiv wären.

Trotzdem lassen sich Akupunktur und chinesische Arzneitherapie als Ergänzung zur bioenergetischen Therapie eines psychisch oder psychosomatisch kranken Menschen dann nutzen, wenn sie von einer anderen Person durchgeführt werden unter der Voraussetzung, dass diese sich mit ihrem therapeutischen Anspruch ein Stück weit zurücknimmt. Sie sollte also nicht versuchen, das psycho-emotionale Ungleichgewicht des Patienten schwerpunktmäßig mit ihren Mitteln zu beseitigen, sondern sich in den Dienst des psychotherapeutischen Prozesses stellen. Dies ist möglich, indem sie dessen Fortschritt fördert und sich bemüht, Hemmnisse auf Seiten der behandelten Person zu beseitigen, die diese daran hindern, sich voll auf die Psychotherapie einzulassen und aktiv an deren Gelingen mitzuarbeiten.

Dies ist zum Beispiel durch Arbeit an konstitutionellen Mustern (zheng) möglich, die der behandelten Person die Mitarbeit im Rahmen einer Psychotherapie erschweren. Dabei lassen sich vor allem vier verschiedene Szenarien identifizieren.

In den ersten beiden Fällen ist die behandelte Person mit ihren Gefühlen nicht in Kontakt oder kann sie nicht zur Orientierung nutzen, weil
  • ihr emotionaler Ausdruck blockiert ist. Dieses Muster bezeichnet die chinesische Medizin als "Obstruktion" (yu)

  • ihr emotionaler Ausdruck unangemessen stark und überwältigend ist. Das entsprechende Muster heißt in der chinesischen Medizin "Die Fünf Willenskräfte wandeln sich in Feuer um".
In zwei weiteren Szenarien kann die behandelte Person dem Therapieprozess nicht folgen bzw. seine Ergebnisse nicht umsetzen, weil
  • sie geistig-seelisch erschöpft, mutlos und resigniert ist. Im Sinne der chinesischen Medizin leidet sie dann unter einem "Mangel an Geist-Qi".

  • es ihr an Ruhe fehlt und sie nervös und unkonzentriert ist. Die chinesische Musterdiagnose lautet in diesem Fall "Der Herz-Geist verliert seine Ausgeglichenheit".
Diese vier Szenarien sollen im Folgenden näher besprochen werden.

Obstruktion (yu)
Das entsprechende chinesische Schriftzeichen zeigt in seiner ursprünglichen Form eine Vase zwischen zwei Bäumen, die durch ein Dach abgetrennt sind von dem Opferwein und den Federn im unteren Teil des Schriftzeichens. Es bedeutet ursprünglich "Dickicht, Gestrüpp" und in seiner erweiterten Bedeutung "Obstruktion, Behinderung". Nach der chinesischen Medizintheorie entwickelt sich eine Obstruktion der Emotionen aus unterdrückten Gefühlen und frustrierten, nicht ausgedrückten Vorstellungen, die die Dynamik des Qi behindern. Die Gewährleistung des freien Qi-Flusses und damit auch des "Verteilens und Ableitens" von Emotionen obliegt der Leber, so dass die Stagnation ihres Qi im Mittelpunkt der Obstruktions-Pathologie steht.

Die psychischen und vegetativen Symptome einer Obstruktion sind vor allem eine gedrückte Stimmung, Druck auf der Brust mit dem Gefühl von erschwerter Atmung, Schmerzen in den Flanken und unter dem Rippenbogen, häufiges Seufzen und Appetitlosigkeit.

Was die Psychodynamik der Obstruktion betrifft, so führen chronische Blockaden des emotionalen Ausdrucks und des Gefühlserlebens dazu, dass Menschen in sozialen und therapeutischen Situationen unlebendig wirken, so als ob sie in einem "Muskel- bzw. Charakterpanzer" im Sinne von Wilhelm Reich stecken. Diese Blockaden werden von der westlichen Psychiatrie meist als Zeichen für eine depressiven Störung gedeutet. Ohne Kontakt zu den Emotionen und Gefühlen, die im Bewusstsein des Menschen als Gradmesser ("somatische Marker" nach A. Damasio) für die Bedeutung eines Ereignisses fungieren, ist eine erfolgreiche Psychotherapie deutlich erschwert.

Die Behandlungsprinzipien der Obstruktion im Sinne der chinesischen Medizin lauten in einem solchen Fall "Die Obstruktion lösen und den freien Fluss des Qi fördern". Dabei soll durch Beseitigung von Blockaden, vor allem an den "Engstellen" des Körpers (Hals, Zwerchfell, Beckenboden, Gliedmaßen), der freie Fluss des Qi und damit auch der (unterdrückten) Emotionen gefördert bzw. wiederhergestellt werden. Dadurch werden dann auch bioenergetische Interventionen zum Lösen von muskulären Verspannungen (als Teil des Charakterpanzers) und zur Förderung des emotionalen Ausdrucks unterstützt. Als Behandlungsmethoden seitens der chinesischen Medizin kommen dabei vor allem Akupunktur, Akupressur, Taijiquan und Qigong in Frage.

Die Fünf Willenskräfte wandeln sich in Feuer um
Die chinesische Medizin geht davon aus, dass alle Sieben Leidenschaften und Fünf Willenskräfte, wenn sie im Übermaß auftreten, das Qi exzessiv bewegen. Ein derartiger Zustand von innerer Überaktivität wird dabei als "Feuer" (huo) bezeichnet. Dieser pathogene Einfluss schädigt vor allem das Herz und beunruhigt den dort beherbergten Geist.

Die psychischen und vegetativen Zeichen einer solchen Störung sind vor allem Ruhelosigkeit und Erregung, Jähzorn, Schwindel, Schlaflosigkeit, bitterer Mundgeschmack, Schmerzen im seitlichen Brustkorb, Keuchen und Husten.

Auf die Dauer führt eine solche Störung zur Verausgabung insbesondere der substantiellen Ressourcen (Yin) und geht dann in ein Muster von nervöser Erschöpfung über.

Dieses Szenario tritt besonders bei Menschen auf, die dazu neigen, auf die Wechselfälle des Lebens emotional sehr stark zu reagieren. Sie können in besonders aufregenden Situationen bzw. Lebensphasen ein Übermaß an emotionaler Aktivierung erleben, das sie zu überwältigen droht. Eine derartige Reaktion kann zum Beispiel bei Panik-Störungen, manischen Phasen einer bipolaren Störung, post-traumatischen Belastungsstörungen oder präpsychotischen Zuständen auftreten. Psychotherapeutische Interventionen sind unter solchen Umständen nur schwer möglich. Wenn die behandelte Person keine Möglichkeit findet, sich selbst zu beruhigen, ist meist eine medikamentöse Behandlung erforderlich.

Falls diese noch nicht zwingend ist, kann die Anwendung von Methoden der chinesischen Medizin oft erfolgreich "Das Feuer nach unten führen, Herz und Leber klären und den Geist beruhigen". Bei diesen Behandlungsprinzipien geht es in erster Linie um die Sedierung übermäßiger psycho-physischer Aktivierung vor allem in den Zang, die den emotionalen Ausdruck regulieren und um eine Beruhigung des Geistes, damit dieser wieder zu klarem Denken und angemessenem Handeln zurück findet. So werden die durch übermäßige Erregung gestörten Fähigkeiten des Patienten zur Einsicht in den therapeutischen Prozess und zum differenzierten leiblichen Spüren verbessert oder wiederhergestellt. Als Behandlungsmethoden seitens der CM kommen vor allem Arzneitherapie, Akupressur und Qigong in Frage.

Mangel an Geist-Qi
Das Qi, d.h. die aktive Kraft, die allen organismischen Funktionen zugrunde liegt, kann einerseits bereits konstitutionell vermindert sein andererseits aber auch durch eine ganze Reihe äußerer oder innerer Einflüsse geschwächt werden. Dazu gehören übermäßige körperliche oder mentale Arbeitsbelastungen, Mangel an Erholung, andauernde Krankheiten oder auch bestimmte Fälle von Stimulantienmissbrauch. Auch wenn zu Beginn nur das Qi eines bestimmten Zang betroffen ist, weitet sich ein länger andauernder Zustand von Qi-Leere meist auch auf andere Zang aus. Nicht selten ist dann auch das Herz-Qi vermindert und das hat negative Auswirkungen auf den Geist, der ja vom Herzen beherbergt wird. Ein weiterer Grund für die Verminderung des Herz- bzw. Geist-Qi kann aber auch direkt in einer Schwächung des Herz-Geistes durch besonders energieaufwändige Bewältigungsstrategien für psychische Probleme liegen. So haben neuere neuro-biologische Forschungen gezeigt, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle mentale Energie (d. h. Geist-Qi) verbraucht, die dann dem präfrontalen Cortex bei der bewussten Steuerung geistiger Aktivitäten fehlen kann.

Die psychischen Symptome einer solchen Störung sind vor allem Beklommenheit bzw. Ängstlichkeit, Verzagtheit, Anfälligkeit für Furcht und Schreck, Grübeln, Sich-Sorgen, Zerstreutheit, Neigung zum Weinen, geistige Ermüdung, Redeunlust, Schreckhaftigkeit, Vergesslichkeit und evtl. Ruhelosigkeit. Dazu kommen oft vegetative Symptome wie ein subjektives Gefühl von Leere in der Herzgegend, Einschlafstörungen, Kraftlosigkeit, spontanes Schwitzen, blass-weiße Gesichtsfarbe, Kurzatmigkeit, Herzklopfen und ein schwacher Puls.

Psychisch kranke Klientinnen oder Klienten, die unter einer solchen Qi-Leere leiden, sind sie oft so erschöpft, dass es ihnen schwer fällt, sich aktiv an dem psychotherapeutischen Prozess zu beteiligen. Wenn die Störung auf einer konstitutionellen Schwäche beruht, handelt es sich im Sinne der westlichen Psychiatrie oft um eine ("endogene") Depression, d.h. eine Major Depression, für die meist eine (ererbte und/oder frühkindlich erworbene) Veranlagung angenommen wird. Weitere psychiatrische Diagnosen mit dem Aspekt eines Mangels an Geist-Qi sind z.B. die Erschöpfungsdepression (auch im Sinne eines "Burnouts") und eine Anfälligkeit für suchthaftes Verhalten.

Für den Erfolg einer Psychotherapie ist es entscheidend, die behandelte Person zu stärken und zu aktivieren. Im Sinne der chinesischen Medizin lauten daher die Behandlungsprinzipien
"Das Herz-Qi auffüllen, den Geist beruhigen und die Willenskraft stabilisieren". Dabei soll über das Herz der dort beherbergte Geist gestärkt und beruhigt werden, so dass er besser zu folgerichtigem Denken und zur Initiierung von konsequentem, entschlossenem Handeln in der Lage ist. So wird die Fähigkeit des Patienten gefördert, im therapeutischen Prozess "bei der Stange" zu bleiben und die dort gewonnenen Einsichten und Fähigkeiten im täglichen Leben zu nutzen. Als Behandlungsmethoden seitens der CM kommen vor allem Arzneitherapie, Akupunktur in Kombination mit Moxibustion, Akupressur und Qigong in Frage.

Der Herz-Geist verliert seine Ausgeglichenheit
Andauernde emotionale Unzufriedenheit mit vergeblichen Versuchen, unerfüllbares Verlangen zu befriedigen, anhaltende Hitze- bzw. Feuer-Zustände aufgrund von emotionaler Überstimulation oder andauernde zehrende Krankheiten können an die Substanz gehen oder "Kühlflüssigkeiten" verbrauchen. Auf diese Weise wird das Yin geschädigt, das dann das Herz und den Geist nicht mehr angemessen ernähren kann. Außerdem kann ein geschwächtes Yin das Yang nicht mehr bändigen und den Geist nicht mehr im Herzen beherbergen.

Die psychischen Symptome einer solchen Störung sind vor allem Gefühle von Ruhelosigkeit, Schreck und Furcht sowie Konzentrations- und Gedächtnisschwäche. Dazu kommen oft vegetative Symptome wie Herzklopfen, "Schreck-Herzklopfen" (Palpitationen, die durch Schreck verursacht werden oder mit einem furchtsamen Gefühl einhergehen), unruhiger Schlaf oder Schlaflosigkeit, übermäßiges Träumen, gezeitenartige Hitzeerscheinungen oder subfebrile Temperaturen, Hitzegefühl in den Handflächen, an den Fußsohlen und in der Brustmitte, Nachtschweiß, Trockenheit der Lippen und der Kehle, bitterer Mundgeschmack, "verknoteter" (verstopfter) Stuhl, gelber Urin, eine rote Zunge mit verminderter Feuchtigkeit und fehlendem Belag sowie ein feiner und schneller Puls.

Menschen, die einerseits geschwächt, andererseits aber auch sehr nervös und unruhig ist, können sich oft nur schwer auf einen therapeutischen Prozess einzulassen. Meist sind Schlafstörungen ein wesentlicher Teil dieses Szenarios. Sie werden oft durch Unruhe und mangelnde Fähigkeit zum Abschalten verursacht, unterhalten diese Zustände aber auch durch die nervöse Erschöpfung, die im Gefolge des Schlafmangels auftritt.

Ein solches Szenario kann zum Beispiel bei Panik-Störungen, posttraumatischem Belastungs-Syndrom oder präpsychotischen Zuständen vorliegen. Gerade bei posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) haben sich Störungen der Schlafarchitektur mit unterbrochenen REM-Phasen (Phasen mit schnellen Augenbewegungen) als wichtige Aspekte eines ungünstigen Krankheitsverlaufs erwiesen.

Um eine Person mit großer Unruhe bei PTBS für eine psychotherapeutische Behandlung zugänglich zu machen, verschreiben westliche Psychiater oft sedierende Psychopharmaka. Diese beeinflussen aber die Schlafarchitektur oft negativ, so dass die Regeneration der REM-Phasen erschwert wird. In solchen Fällen wären alternative Methoden zur Beruhigung der behandelten Personen wie zum Beispiel Akupunktur oder chinesische Arzneitherapie sicher eine bessere Lösung. Auf jeden Fall werden psychotherapeutische Interventionen bei Zuständen nervöser Erschöpfung deutlich erleichtert, wenn die behandelte Person wieder besser schlafen kann und dadurch auch ihre Ruhelosigkeit abnimmt.

Die Behandlungsprinzipien, mit denen die chinesische Medizin in solchen Fällen arbeitet, lauten "Das Herz-Yin und Blut nähren, den Geist beruhigen und evtl. Schreck sedieren".

Dabei sollen die beruhigenden, kühlenden und den Geist beherbergenden Kräfte bzw. Substanzen im Herzen genährt werden. Auf diese Weise wird der Geist in seine Herberge zurückgeführt und dort "verankert". Zu diesem Zweck kann es evtl. auch erforderlich sein, den Geist beunruhigende Emotionen abzumildern.

In bioenergetischem Sinne geht es hier vor allem um die Förderung von Containment, die Reduktion von diffuser, unspezifischer Erregung und um die Verbesserung der Regenerationsfähigkeit des Patienten. Als Behandlungsmethoden seitens der CM kommen vor allem Arzneitherapie, Akupressur und Qigong in Frage.

Fazit
Die obigen Darstellungen sollten Personen, die nicht in chinesischer Medizin fortgebildet sind, einen Eindruck von deren Herangehensweisen an psychische und psycho-somatische Probleme geben. Genauere Angaben zur Therapie der vier erwähnten Szenarien mit Akupunktur und chinesischer Arzneitherapie finden sich bei Mücher (2013).

Literaturverzeichnis
Damasio, A. (2002): Ich fühle, also bin ich. München (Ullstein Heyne List).
Mücher, J. (2013): Chinesische Medizin als Ergänzung zu einer psychotherapeutischen Behandlung. Naturheilpraxis 2013 (1), 40-42.
Xu, X. (1611) zit. n.: Rossi, E. (2007): Shen. Psycho-Emotional Aspects of Chinese Medicine. Oxford (Churchill Livingstone).

(Dieser Artikel erschien zuerst im Forum Bioenergetische Analyse 2015, Psychosozial-Verlag, Gießen)


 
 


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